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Eine Bemerkung zur Seite und einige Neuigkeiten.

In Ägypten findet morgen (Samstag) das Referendum zur Verfassung statt.
Diese Abstimmung trägt, zusammen mit der heftigen Repression durch die
Armee, dazu bei, den revolutionären Prozess auf Eis zu legen. Das
jedenfalls, sagen uns die Freunde vor Ort. Oppositionelle werden weiter in
den Knast geschickt, es wird weiter gefoltert… Die militärische Macht
scheint neue Demonstrationen zu fürchten, eine Wiederbesetzung des Tahrir
Platzes, der vor einer Woche gewaltsam geräumt wurde.

In Libyen ist die Situation seit vielen Tagen verwirrend, seit die
Aufständischen begonnen haben, angesichts des Vorrückens von Gaddafis
Truppen zurückzuweichen. Eine große Zahl westlicher Journalisten ist in
diesem Moment dabei, das Land zu verlassen, die Medien übertragen die
Kommuniques von Gaddafis Klan und der Übergangsregierung, die einer wie
die andere eine einseitige Sicht der Situation bieten… Nachdem die Stadt
Ajdabiyah am Mittwoch von den Loyalisten für eingenommen erklärt wurde,
sind die Kämpfe dort gestern und heute immer weiter abgeflaut. In Bengazi
spitzt sich die Situation weiter zu. Die gefangen genommenen Soldaten
Gaddafis wurden an einen anderen Ort gebracht, aus Angst, dass sie im Fall
einer Belagerung der Stadt gelyncht werden könnten.

Die Freunde, die sich noch immer zwischen Bengazi und der Front befinden,
haben uns in einem langen Artikel auf eine Reihe von Fragen geantwortet
(namentlich gestellt von den Lesern dieser Seite). Auf andere Fragen haben
sich in den Kommentaren zu einem früheren Text Antworten gefunden.
Außerdem haben sie uns heute einige Neuigkeiten geschickt:

Wir möchten einige Dinge korrigieren, die wir über die Armee geschrieben hatten und die nicht länger aktuell sind. Auf Seiten der Aufständischen hält sich die organisierte Armee nicht länger im Rückraum auf, sie scheint sich jetzt in Gänze an der Front zu befinden. Die in den Kasernen ausgebildeten Männer haben sich den Shebab [der kämpfenden Jugend] angeschlossen, nur noch die Spezialkräfte und die Katjuschas unterliegen einer klaren Hierarchie. Wir sind nach Quefia zurückgekehrt, einem Ort, an dem sich viele Leute aufhalten, die in Ras Lanouf und Brega gekämpft haben. Dort haben wir in einer für den Flugverkehr strategischen bedeutsamen Zone Männer der Küstenverteidigung getroffen, die bemerkenswert organisiert sind. Ihr System, das auf einer guten Kommunikation zwischen einzelnen Posten aufbaut, ermöglichte gestern den Abschuss eines Suchoi-Kampfjets. Zudem unterstützten Flugzeuge vor Einrichtung jener berühmten Flugverbotszone die in Ajdebiyah kämpfenden Aufständischen, insofern sie nicht von deren Luftabwehr daran verjagtwurden.

Offensichtlich war das gestrige Ereignis des Tages die Inkraftsetzung der Flugverbotszone durch die UNO. Unlängst sagten noch alle, dass diese Flugverbotszone taktisch nicht viel ändern wird (was wahr ist) und niemand wagte in der Stimmung der allgemeinen Niederlage, an ihre Schaffung wirklich zu glauben. Aber die Freude, die diese Ankündigung auslöste war enorm, lange schon hatte man nicht mehr so viele in den Vorbereitungskursen gesehen. Die Nachricht schlug nach dem Abendessen ein. Augenblicklich fingen alle an, in die Luft zu schießen. Es war ein echtes Feuerwerk der Leuchtkugeln. Alle Jungs, mit denen wir zusammen sind, waren weg, um das Ereignis zu feiern, ein Rodeo auf Autos in den Straßen der Stadt zu veranstalten und einige Magazine zu leeren. Ein Händler lud uns alle zum Trinken ein. Es war ein Fest…

Die Libyer spüren neue Kraft; die Anhänger Gaddafis wissen sich bedroht.

Bengazi, 18. März

Einige ersehnte Präzisierungen aus Libyen

Wir verstehen, dass es von Frankreich aus kompliziert sein muss, sich vorzustellen, wie die Situation hier ist. Wahrscheinlich macht man sich kein Bild von diesen unerfahrendenen Jugendlichen, die sich ohne Waffen in den Sturmangriff einer pausenlos bombardierten Strasse werfen. Oder davon, dass eine “politische” Diskussion mit einem gebildeten und neugierigen Studenten im wohlüberlegten Erörtern der Realität einer “jüdischen Freimaurerverschwörung” bestehen kann. Die libysche Revolution ist mit Sicherheit nicht so, wie wir glaubten.

In einer Woche der Repression übt Gadafi und sein unerträgliches Regime Vergeltung an einem Volk, das wenig an Revolten gewöhnt ist (Libyen ist nicht Griechenland oder die Kabylei). In diesem Artikel versuchen wir, einen Monat nach Beginn der Revolte, zu erörtern, was das befreite Libyen ist. Versuchen, ein bisschen mehr von dem zu teilen, was wir dort gesehen und erlebt haben. Auch, um ein anderes Licht auf die Berichte zu werfen, die wir auf dieser Seite bisher veröffentlicht haben und weiter veröffentlichen werden.

Versorgung

Was die Verpflegung, Wasser, Strom und Treibstoff betrifft, ist die Situation nach wie vor stabil. Die Verpflegung wird im Allgemeinen wie vor der Revolte beschafft, in Geschäften, die von Ägypten aus beliefert werden. Die Löhne werden nicht mehr ausgezahlt, aber die von den Banken nach und nach freigegebene persönliche Wirtschaft [?] reicht aus. Um einer wachsenden Verarmung und einem Stillstand der Marktwirtschaft vorzubeugen, haben die Golfstaaten, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate, sowie die ägyptische Bevölkerung Lebensmittel und Hygieneartikel über die Grenze geschickt, die grösstenteils in den Städten [der östlichen Provinz] Kyrenaika lagern. Seit dem 17. Februar, vorher war der Bedarf an Lebensmitteln nicht erkennbar, bildeten sich zahlreiche Initiativen, um die Bedürftigen zu versorgen. Ich kenne sie nicht alle und weiss mitunter nicht viel über ihre Funktionsweise und Effektivität. Nicht weniger manifestierte sich die Solidarität in den Tagen, die auf den 17. Februar folgten, im Wesentlichen in spontanen Lebensmittelspenden Einzelner. Sehr schnell lösten die Männer, die zu den Waffen gegriffen hatten, um Check-Points einzurichten, eine schwunghafte Grosszügigkeit aus. So öffneten etwa Eigentümer von Supermärkten ihre Lager für die Verteidiger der Stadt.

Am 26. Februar beginnt die Petrol Engineering Community, eine spontan von Arbeitern der Petroliumindustrie gegründete Assoziation, bei Führungskräften der Petroliumindustrie Spenden zu sammeln (2000-3000 $ am Tag), um Lebensmittel und Kleidung für die Soldaten zu kaufen. Als die Truppen Gaddafis am 2. März Brega angriffen, stiegen die Spenden erheblich an. Seit diesem Tag und bis vor kurzem ging es dabei im Wesentlichen um Wasserflaschen, Milch, Saft, Kuchen und Teigwaren. Eine bedeutender Teil dieses (überschätzten) Zustroms wurde an den Check-Points an Durchreisende verteilt. Flüchtlinge aus Zentralafrika, Westafrika und Ägypten profitierten von dieser Hilfe (die derzeit für uns weitgehend unzureichend
ist).

Am 6. März gründeten zu Studenten gewordene frühere Pfadfinder “ Die Jugend des Wandels”. Diese Organisation mit ihrer (den Pfadfindern geschuldeten) etwas formellen Hierarchie umfasst um die 30 feste Mitarbeiter und über 370 für verschiedene Aufgaben mobilisierbare Freiwillige, die sich zum Beispiel um Transport, Reinigung, Verstärkung des Krankenhauspersonals oder die Veröffentlichung von Artikeln kümmern. Auf Versorgungsebene übernehmen sie aus dem Golf kommende Hilfsgüter, dank ihrer Kontakte und Beziehungen mit der gesamten kyrenaikischen Küstenregion haben sie eine Reihe von Depots in Bengazi eingerichtet und fahren die Lebensmittel in Konvois an die Frontlinie. Sie organisieren Waffensammlungen und ermuntern die Leute, die Waffen aufbewahren, sie den Kämpfern zu geben, auch wenn sie selbst nach wie vor nicht mitmachen. Diese spontane Assoziation hält Verbindungen zu anderen, älteren Vereinigungen der sozialen Hilfe und Solidarität, und gelegentlich zu den neuen Instanzen in Bangazi.

Instanzen.

Es gibt im Grunde genommen drei offizielle Instanzen, die zur Zeit nicht über ein Gebäude verfügen. Die bekannteste ist die provisorische Regierung, der nationale Übergangsrat. Nur eine Minderheit ihrer Mitglieder sind bekannt, denn etliche unter ihnen befinden sich (inkognito) in der besetzten Zone. Seine Rolle ist es, diplomatische Beziehungen und Kontakte zur Presse aufzubauen mit dem Zweck, den Mächten des Abendlandes eine glaubwürdige Alternative zu Gaddafis System anzubieten. Die zweite, wenig bekannte Instanz ist der lokale Rat, seine Bedeutung scheint gering zu sein. Die dritte ist der Stadtrat (bisweilen auch lokaler Rat genannt). Er besteht aus dreizehn Mitgliedern, alle von ihnen sind öffentliche Personen aus Bengazi. Jedes Mitglied deckt einen Sektor öffentlicher Bedürfnisse ab: Ökonomie, Banken, Erziehung…

Ich habe mich recht wenig mit dieser Institution beschäftift, aber jenseits dessen, was die Armee in Bengazi betrifft, scheint er wenig aktiv zu sein. Die Mitglieder des Stadtrates scheinen sich auf dem auszuruhen, was bereits existiert: Die spontanen Assoziationen, jene Institutionen, die funktionieren (Erdölunternehmen, Krankenhäuser usw). Der Verantwortlichen für den Energiesektor, Ahmed Garoushi, kümmert sich nicht um den Verkauf des in Tobrouk verfügbaren Rohöls (100.000 Barrel am Tag) und die Rekuperation des Geldes aus diesem Verkauf, der in den kommenden Wochen stattfinden müsste. Dieses Geld wäre dem Stadtrat und der provisorischen Regierung zur Verfügung zu stellen.

Um besser zu verstehen, wie die Mechnismen der Konterrevolution sich zusammensetzen, gilt es, das tiefgründigste Phänomen dieses revolutionären Krieges zu beleuchten, die Formierung eines “vorn” und eines “hinten”. Und dann zu versuchen, das zu verstehen, dem bis dahin niemand (inklusive uns) Aufmerksamkeit zu schenken schien: Den Diskurs des libyschen Volkes.

Der Krieg konnte, in seinen ersten Tagen, absolut nicht in einen Gegensatz gefasst werden, der in den Kämpfen zwischen einem “vorn” und einem “hinten” unterscheidet. Zunächst gingen alle befreiten Städte aus langen Schlachten hervor, schwierig und blutig, die alle betrafen (Demonstranten, Freunde, Nachbarn, Krankenhauspersonal, Freiwillige aller Art). Brega wurde von seinen Einwohnern eingenommen, und als die von Ras Lanouf Applaus von den Leuten aus Bengazi bekamen, war es eine ganze Stadt, die sich mobilisiert hatte, jeder Bewohner zog mit einer Waffe in den Krieg, die er sich angeeignet hatte, oder mit der eines Freundes.

Die Formierung eines “vorn”…

Es ist der Tag nach der Feier dieser Erfolge und der übernächste der Niederlage in Benjawad, der jene Truppe von Kämpfern hervorbrachte, die während der Kämpfe um Benjawad, Ras Lanouf, Brega und Ajdabiyah zur “Armee des Volkes” wurde. Diese Truppe, schlecht bewaffnet, nicht geschult, ist durch eine Unfähigkeit zu jeglicher offensiven Aktion gekennzeichnet, die 300-600 Meter überschreitet, durch langes und schwieriges Lernen der notwendigen Verstohlenheit, durch eine Zeitlichkeit des Handelns, die mehr den Rhythmus einer Spritztour mit Kumpels hat als den eines Krieges. Als ich sie verließ, hatte diese Truppe weder weitreichende Kanonen noch Haubitzen, weder Mörser noch Katjuschas, weder Helme noch kugelsichere Westen, und sehr wenig leichte Waffen.

Eine andere Komponente der Front, sie ist fast unsichtbar, lag darin, dass sich die Armee rund um irgendwelche Offiziere neu zusammensetzte. Die einzigen Truppenmit Kommandostruktur scheinen die Spezialkräfte zu sein. Der Gebrauch von Katjuschas, die, wie dieser Krieg geführt wird, unentbehrlich sind, scheint einen Status zu vermitteln. Ihr Abschuss wird von den Spezialkräften geregelt, wie mir letztere versicherten, während ich sah, dass die Munition in Selbstorganisation vom Volk transportiert wird. Während der massiven Angriffe des bewaffneten Volkes (wie in Benjawad oder in Sidrah) konnte die Nutzung dieser Waffen wahrhaft entscheidend sein. Außerdem ist zwar wahrscheinlich, dass die hierarchisierte Armee eine wichtige Rolle bei bestimmten Siegen gespielt hat, doch wurde sich systematisch auf die Angriffe des Volkes verlassen und in vielen Fällen hätte man sich weit weniger exponieren müssen.

… und eines “hinten”

Bei denen, die sich seither “hinter” der Front konstituieren, nimmt dies organisierte Armee hingegen einen wichtigen Platz ein. Außer den Spezialkräften, die sich permanent im Gebiet aufzuhalten scheinen, organisieren die die Ausbildung neuer Kräfte in einer Kaserne, verfügen mit Sicherheit über große Bestände an Waffen und sind in ständiger Verbindung mit der Keimzelle des entstehenden Staates. Der Geist dieser Säbelrassler ist das Geheimnis und das Misstrauen, bis hin zur Lächerlichkeit. Es sind nicht die Leute an der Front, sondern jene geschniegelten jungen Männer, die die Ausrüstung besitzen, die die kugelsicheren Westen tragen. Es ist in ihrem Trainingslager, wo sich die Funkgeraäte mit großer Reichweite finden, die leistungsstarken Ferngläser, die modernsten großen Kaliber. Dort sei man, so heißt es, bereit über den Feind hereinzubrechen, ein ganzes Bataillon (200-300 Männer) sei bereits ausgerüstet und militärisch ausgebildet. Häufig verließen einige unter ihnen das Lager, um sich unter den Granaten der Armee des Volkes wiederzutreffen.

Es ist gewiss, dass die Offiziere von morgen, die Medaillenträger, die Pensionäre, nicht diejenigen sein werden, die sich außerhalb jeder Hierarchie organisieren. Für letztere existiert eine separate Realität, verschieden und konfus. Sie beschäftigt vor allem, dass sie beim Anrücken der feindlichen Truppen dort sterben könnten, die Beschaffung von Waffen, das Schicksal der Verräter und der Feinde. Der Widerspruch ist groß zwischen den zivilen Kämpfern an der Front und den anderen, denen hinten. Anwesend in den Momenten der Freude, sind diese schnell aus einem Krieg desertiert, der sie überrollt. In Bengazi lösen sie das Problem, indem sie ohne Unterbrechung bekräftigen, dass Gaddafi am Ende ist sowie durch das Absingen patriotischer Lieder.

Die Aneignung der Waffen durch das Volk geschah nach Art des Privateigentums, nicht durch ihren einzelnen oder kollektiven Gebrauch. Es gibt derzeit Tausende Kalaschnikows, Granatwerfer, und sogar 30 mm Waffen, die unter den Kopfkissen und in den Garagen von Bengazi schlafen. “Hinten” wusste jenseits der hierarchisierten Armee, auf die wir zu sprechen kamen, niemand wirklich, wo die Front ist. Es scheint alle einen Scheiß zu kümmern, sie versuchen nicht, es zu wissen. Sie fühlen sich diesem Krieg nicht verpflichtet, den sie nicht erklärt haben. Der Diskurs dort, das sind die hunderte Male von den Leuten auf der Straße wiederholten Sätze; hunderte Male “Gaddafi der Affe”, “Gaddafi der Verrückte”; die hundertfachen Gaddafi-Karrikaturen, die Karrikaturen ihres Diskurses. Das Problem ist Gaddafi; Gaddafi, nicht seine Söhne; Gaddafi, nicht seine Armee; Gaddafi, nicht seine Polizei. Gerade noch gesteht man sich zu, die Fremden, die schwarzen Söldner auf dem Niveau von “Gaddafi der Afrikaner” zu demütigen. Die nationale Eintracht kann hier in jedem Moment angerufen werden. Das Volk und die Jugend haben sich die Indoktrination wiederangeeignet.

Sicher, die Toten werden jeden Versuch der nationalen Aussöhnung beeinträchtigen, doch werden sie auf religiöse Art begraben. Sie sind keine Krieger, keine Besiegten, sie sind Märtyrer, man soll sie nicht beweinen. Die Libyer sollen den Frieden und Gott respektieren, vor ihren Feindschaften und vor ihrem Begehren. Die fünf Gebete des Tages sind da, um dies in Erinnerung zu rufen, selbst an der Front. Das Religiöse ist ein wichtiger Teil des Diskurses, die Demonstrationen skandieren, dass es keinen Gott gibt außer Allah und Allah ist groß.

Es scheint, dass der zentrale Motor dieser Revolte einer Reaktion auf die maßlose Hochmütigkeit von Gaddafi ist, der sich erlaubte, ein Volk auslöschen zu wollen, das schlimmstenfalls Reformen verlangte und bestenfalls Saif al Islam wieder an der Macht und die Länder befreit sehen wollte. Alle Formen der Propaganda, der Logistik, des Kampfes, der Organisation, die bisher von der Revolution erfunden wurden, sind direkte Anleihen nach Modell des Systems von Gaddafi. Vielleicht lernt die Revolution in den Gruppen der Kämpfer oder der jungen Freiwilligen, die die Erfahrung von  Kameradschaft und kollektiver Organisierung machen – was angesichts der omnipresenten Versuche der Formalisierung hier stets prekär ist.

Q. und D., Bengazi, 17. März

Die Revolution geht weiter

Noch einmal verlassen wir die libysche Front und machen uns auf den Weg nach Kairo und den Tahrir Platz, der kürzlich von der neuen Macht geräumt und gesäubert wurde.

Trotz der Räumung des Tahrir Platzes am Mittwoch, den 9. März, versuchen einige Ägypter noch immer sich zu organisieren, damit die Revolution weitergeht. Um sich von den neuen Versuchen der Spaltung nicht schwächen zu lassen, wurde daher eine gemeinsame Versammlung von Christen und Moslems auf eben jenem Platz beschlossen.

Platz Tahrir, Freitag, den 11. März um 14 Uhr, viele Tausend Ägypter, Christen und Moslems durcheinander, treffen sich also, Bibel und Koran in der Hand. Seit acht Tagen belagern die Kopten Tag und Nacht den Platz vor dem staatlichen Fernsehen. Zwei ihrer Kirchen wurden völlig zerstört, gewaltätige Auseinandersetzungen waren die Folge, die Armee verhindert den
Wiederaufbau der Kultstätten an ihrem ursprünglichen Standort und die ägyptischen Medien sagen nichts darüber.

Tahrir Platz, nach den Toten und der Räumung, die Leute sind glücklich, sich wieder zusammen zu finden; Tanz, Musik, Diskussionen, Gebete.

Seit Beginn der Revolution, und erneut am Tag der Räumung des Platzes, wurden hunderte Demonstranten festgenommen. Unmöglich zu wissen, wieviele genau, wer sie sind und wo sie sind. Die ersten Urteile werden gefällt, es ist von 5 bis 15 Jahren Gefängnis die Rede. Die Armee hat die Kontrolle des Landes übernommen, es ist ein Militärtribunal, das sie aburteilt.
Dieses Tribunal lässt keine Berufung zu, es herrscht Kriegsrecht.

17 Uhr. Die Stimmung auf dem Platz Tahrir wandelt sich. Eine spezifischere Versammlung fordert die Freilassung ihrer Gefangenen und die Aufhebung des seit dreißig Jahren währenden Ausnahmezustands, was immer schon eine der Forderungen der Bewegung ist. Um jeden Versuch einer Wideraneignung des Zentrums des Platzes zu vereiteln, wurde die zentrale Fläche, Ort des früheren Zeltplatzes, unter Wasser gesetzt. Einige versuchen, das Terrain trocken zu legen, die Wasserleitungen zu verstopfen und Abflussrinnen zu graben. Augenblicklich kommt die Armee, um die Gräben wieder zu schließen. Von diesem Moment an beginnen kleine Gruppen des Militärs, in Innere der Versammlung vorzudringen, was für gewisse Aufregung sorgt. Leute setzen sich ins Bewegung, andere eilen ihnen nach. Irgendwelche Leute werden von der Armee abgeführt, Gerüchte aller Art verbreiten sich darüber. In dieser allgemeinen Verwirrung leert sich der Platz nach und nach.

Die konterrevolutionären Strategien der miltärischen Macht scheinen die Entschlossenheit der Demonstranten nicht zu erschüttern. Es gibt eine Vielzahl von Treffen, die diskutieren, wie es weitergeht mit der Bewegung.

Kairo, 12. März

Die Räumung des Tahrir Platzes

Wir haben seit gestern kaum Nachrichten aus Lybien. Wir haben nur gehört, dass es an der Front in den Außenbezirken von Ras Lanuf in der Nacht vom 8. auf den 9. März zu Kämpfen gekommen ist. Viele Aufständische sind aus der Stadt geflohen, da sie glauben, dass sie bald von Gaddafis Truppen eingenommen werden wird. […] Wir nutzen diesen Mangel an Informationen aus Libyen, um einen Artikel zu veröffentlichen, der uns von FreundInnen in Ägypten (Kairo) zugeschickt wurde. Es geht um die Räumung des Tahrir Platzes (der seit Ende Januar weiterhin besetzt war). Eine Räumung, die in den westlichen Medien kaum Erwähnung fand, und das aus gutem Grund: Scheinbar waren keine Journalisten vor Ort.
Die Räumung des Tahrir Platzes

Die Mitte des Tahrir Platzes in Kairo ist noch immer von Dutzenden Zelten besetzt. Das Dorf ist von einem Zaun umgeben, der Eingang wird von BesetzerInnen bewacht. Alle, die hinein wollen, müssen nachweisen, dass sie weder Polizisten, noch Bewohner eines unfreundlichen Stadtteils oder feindlich gesonnen sind. Seit einigen Tagen versuchen eine Menge von der Regierung geschickte Zivi-Bullen die unbeugsamen Besetzer des Tahrir Platzes zu diskreditieren, indem sie Gerüchte, Verleumdungen und Verwirrung darüber verbreiten, was dort geschieht. Die Regierung schickt Agenten, damit diese sich von westlichen Journalisten interviewen lassen und ihre Lügen erzählen. “Jene, die noch hier sind, sind die schlechten Demonstranten. Die guten Demonstranten sind wieder nach Hause gegangen und die, die noch da sind, destablisieren die Ökonomie und den Tourismus.” Seit einigen Nächten schickt die Regierung Prostituierte, um das Gerücht zu verbreiten, dass das Camp Prostitution organisieren würde.

“Die vom Tahrir”

Eine kleine Gruppe, die sich “Die vom Tahrir” nennt, erklärt uns “was dort wirklich passiert”. Sie sprechen über die Ereignisse seit dem 25. Januar und dass die Regierung seither versucht, die Bewegung zu brechen; indem sie zum Beispiel Gruppen spaltet und ihre Forderungen auseinander dividiert. Als erstes richtete sich die Regierung an die Muslimbruderschaft, die einzige wirklich politisch und materiell organisierte Instanz. Im Austausch dafür, dass sie den Tahrir Platz verließen, erkannte sie einige ihrer Froderungen an, namentlich die Freilassung einiger Gefangener und ein paar extra Sitze im Parlament. Dann wurde, im zweiten Zug, die Jugend gespalten. 35 junge Leute wurden ausgesucht, um eine mit der Regierung in Verbindung stehende Gruppe zu bilden. Der jüngste Versuch der Spaltung der Bewegung bestand in der Intensivierung der Trennung zwischen muslimischen und koptischen Communities. Laut “Denen vom Tahrir” wurden die Brandstiftungen an Kirchen und die darauf folgenden Unruhen von der Regierung ausgelöst. Auf diese Bemühungen der Spaltung erwidern sie: “Ein einziger Geist, ein einziges Ägypten”. Die Leute, die wir vor uns haben, leben seit dem 25. Januar Tag und Nacht auf dem Tahrir Platz; sie kannten sich vorher nicht und gehören keiner politischen Partei an. Sie treffen sich jede Nacht, um den vergangenen Tag zu bilanzieren und über den kommenden zu sprechen. Ihre Sorge in diesem Moment: Die Gerüchte zu beseitigen und ein gemeinsames Freitagsgebet von Musliumen und Kopten zu organisieren. Sie werden bleiben, bis das gesamte System verschwunden ist. Ihr Projekt ist, einen Lastwagen zu kaufen und damit durch Ägypten zu fahren, in jede Stadt, und die Menschen zu ermutigen, sich zu organisieren. “Und nach dem ‘bye, bye’ wollen wir ihre Namen nicht wissen, und wir wollen nicht, dass sie die unseren wissen; wir wollen nicht ihre Chefs werden.”

Wir verlassen den Platz gegen 15:30 Uhr. Die Spannung war den ganzen Tag über mit Händen zu greifen: Schreie, beginnende Prügeleien, das Kommen und Gehen mit Knüppeln bewaffneter Leute. Ein Stück weiter weg sammelen sich Gruppen von fünfzig bis hundert Leuten um die wenigen noch in der Gegend im Einsatz verbliebenen Panzer; sie scheinen intensiv zu diskutieren. Wenig später stoßen wir am anderen Ende der Stadt auf das Polizeihauptquartier, geschützt von Panzern und hohem Stacheldraht. Auf der anderen Straßenseite stehen Dutzende Demonstranten mit “Haut ab!” Schildern. Als uns ein Soldat sieht, wie wir mit ihnen diskutieren und lachen, kommt er eilig auf uns zu und sagt uns, dass wir ihm folgen sollen. Ein Demonstrant ruft uns zu, nicht ins Gebäude zu gehen. Unglücklicherweise finden wir uns bald auf der falschen Seite des Stacheldrahts wieder, umzingelt von vier Soldaten und einem Typ in einer Lederjacke, geradewegs einem schlechten Spionagefilm entsprungen. Sie konktrollieren unsere Ausweise und vergewisseren sich, dass wir keine Journalisten sind. Als wir herauskommen, sind die Demonstranten verschwunden.

Abschiebung, Zerstörung, Lynchjustiz. Oder “Da haben wir sie, die Demokratie.”

Spät am Nachmittag kehrten wir auf den Tahrir Platz zurück. Wir kommen an, kurz bevor das Militär eingesetzt wird und den Zugang zum Platz verhindert. Hunderte Leute kommen, um das Camp anzugreifen. Bewaffnet mit Knüppeln, Eisenstangen, Macheten, von da an zerstören sie erbittert noch die kleinste Installation des Camps. Es ist eine Szene der kollektiven Hysterie: Alles geht dahin, selbst das Monument der für die Revolution gefallenen Märtyrer. Es ist eine wahrhaftige Menschenjagd, an der sich die Armee aktiv beteiligt. Die weniger zahlreichen Besetzer des Tahrir Platzes werden verfolgt, gepackt, verprügelt. Genauso geht es allen, die versuchen Fotos zu machen. Nach und nach erkennen wir, dass eine große Anzahl der anwesenden Personen Polizisten in Zivil sind. Da wir versuchen Fotos zu machen, entkommen wir der Lynchjustiz nicht. Im Gedränge werden wir getrennt. Die Gruppe mit der Kamera wird von hunderten wütender Leute und einigen Soldaten verfolgt. Sie werden gefangen, von der Menge zusammengeschlagen, unter Beschimpfungen und Schlägen zum behelfsmäßigen Hauptquartier der Armee vor dem Kairo Museum gebracht. Während der Armeechef unsere Kamera leert, werden die vom Tahrir Platz von der Armee und der Menge verprügelt. Ein Mann, der offensichtlich das Bewusstsein verloren hat, wird in einen Teppich eingewickelt an uns vorbei getragen. Wir werden “gebeten” uns schleunigst zu verziehen.

Währenddessen sind einige von uns noch immer auf dem Tahrir Platz. Panzer fahren in voller Geschwindigkeit vorbei. Sie intervenieren am Eingang eines Cafes, wo ein Besetzer, der sich auf der Suche nach Schutz ins Innere geflüchtet hatte, von dreißig üblen Typen herausgezerrt wird. Kein Foto soll gemacht werden von der Situation, selbst die Leute auf den Balkonen werden beschimpft und mit Steinen beworfen. Ein weiterer Genosse wird mit seiner Kamera gefangen, von der Menge verprügelt und mit Gewalt zum Militärlager gebracht. Als wir den Platz verlassen, sind die LKW der Stadtreinigung bereits vor Ort eifrig damit beschäftigt, die letzten Spuren der Revolution zu beseitigen.

23:00 Uhr. Auf einem nicht wiederzuerkennenden Tahrir Platz, komplett gesäubert, trägt eine kleine Gruppe “Demonstranten” einen Polizeioffizier in einem Triumphzug auf den Schultern.

Kairo, 9. März


Wir.

Die tunesische Erhebung und ihre Konsequenzen haben die Frage des Aufstands aufs
Neue konkret und greifbar gemacht. In Tunesien, Ägypten, Marrokko oder Libyen war
sie sicher nie zuvor so aktuell. Dass die Medien sie auf das “Mediteranen Raum”
beschränken wollen, ändert nichts daran, dass sie auch Frankreich und all das
berührt, was man unbeholfen “das Abendland” nennt.

Einen Aufstand ernst zu nehmen heißt, unter anderem, zu versuchen, herauszufinden,
was in ihm überall Resonanz findet. Was erfordert, ihn “politisch” zu begreifen:
affektiv ebensosehr wie materiell oder technisch. Dies ist eins der Ziele dieses
Blogs. Zu sehen und zu beschreiben, was heute in Libyen, gestern in Tunesien, morgen
woanders passiert. Die Worte, Bilder und Erfahrungen zurückzubringen, zu teilen, die
uns berühren. Wir sind keine Journalisten.

Wie wird die Erhebung organisiert? Wie das Machtvakuum bewohnt? Wie werden die
materiellen Solidaritäten organisiert? Wie gegessen? Wie gekämpft? Wie treffen wir
uns? Was sind die Linien, die den Aufstand von der Reaktion trennen? Der Aufstand
selbst? Wie kämpfen die Frauen? Wie werden zuvor existierende soziale Beziehungen
außer Kraft gesetzt oder erhalten? Wie wird der Aufstand gedacht, ausgedrückt und
gelebt? Was lehrt er uns? Was kündigt er an?

“Ein Aufstand, wir können uns nicht mal mehr vorstellen, wo er beginnt: Sechzig
Jahre der Befriedung, ausgesetzter historischer Umwälzungen, sechzig Jahre
demokratischer Anästhesie und Verwaltung der Ereignisse haben in uns eine gewisse
aprupte Wahrnehmung des Realen geschwächt, den parteilichen Sinn für den laufenden
Krieg. Es ist diese Wahrnehmung, die wir wiedererlangen müssen, um zu beginnen.”

Für den Moment haben wir uns dafür entschieden, die Berichte, die uns unsere
Genossen vor Ort schicken, so abzuschreiben, wie sie sind. Tag für Tag, mit allem,
was sie möglicherweise an Anekdoten, Misserfolgen, Ungenauigkeiten und Widersprüchen
enthalten können. In einem zweiten Moment werden wir uns all dieses Material wieder
vornehmen müssen, es korrigieren und neu organisieren. Wir laden alle ein, die mit
uns teilen wollen, was sie erleben, wo sie kämpfen, Kontakt zu uns aufzunehmen.

Eine Bemerkung zur Seite und einige Neuigkeiten.
18.03.2011

In Ägypten findet morgen (Samstag) das Referendum zur Verfassung statt.
Diese Abstimmung trägt, zusammen mit der heftigen Repression durch die
Armee, dazu bei, den revolutionären Prozess auf Eis zu legen. Das
jedenfalls, sagen uns die Freunde vor Ort. Oppositionelle werden weiter in
den Knast geschickt, es wird weiter gefoltert... Die militärische Macht
scheint neue Demonstrationen zu fürchten, eine Wiederbesetzung des Tahrir
Platzes, der vor einer Woche gewaltsam geräumt wurde.

In Libyen ist die Situation seit vielen Tagen verwirrend, seit die
Aufständischen begonnen haben, angesichts des Vorrückens von Gaddafis
Truppen zurückzuweichen. Eine große Zahl westlicher Journalisten ist in
diesem Moment dabei, das Land zu verlassen, die Medien übertragen die
Kommuniques von Gaddafis Klan und der Übergangsregierung, die einer wie
die andere eine einseitige Sicht der Situation bieten... Nachdem die Stadt
Ajdabiyah am Mittwoch von den Loyalisten für eingenommen erklärt wurde,
sind die Kämpfe dort gestern und heute immer weiter abgeflaut. In Bengazi
spitzt sich die Situation weiter zu. Die gefangen genommenen Soldaten
Gaddafis wurden an einen anderen Ort gebracht, aus Angst, dass sie im Fall
einer Belagerung der Stadt gelyncht werden könnten.

Die Freunde, die sich noch immer zwischen Bengazi und der Front befinden,
haben uns in einem langen Artikel auf eine Reihe von Fragen geantwortet
(namentlich gestellt von den Lesern dieser Seite). Auf andere Fragen haben
sich in den Kommentaren zu einem früheren Text Antworten gefunden.
Außerdem haben sie uns heute einige Neuigkeiten geschickt:

Wir möchten einige Dinge korrigieren, die wir über die Armee geschrieben
hatten und die nicht länger aktuell sind. Auf Seiten der Aufständischen
hält sich die organisierte Armee nicht länger im Rückraum auf, sie scheint
sich jetzt in Gänze an der Front zu befinden. Die in den Kasernen
ausgebildeten Männer haben sich den Shebab [der kämpfenden Jugend]
angeschlossen, nur noch die Spezialkräfte und die Katjuschas unterliegen
einer klaren Hierarchie. Wir sind nach Quefia zurückgekehrt, einem Ort, an
dem sich viele Leute aufhalten, die in Ras Lanouf und Brega gekämpft
haben. Dort haben wir in einer für den Flugverkehr strategischen
bedeutsamen Zone Männer der Küstenverteidigung getroffen, die
bemerkenswert organisiert sind. Ihr System, das auf einer guten
Kommunikation zwischen einzelnen Posten aufbaut, ermöglichte gestern den
Abschuss eines Suchoi-Kampfjets. Zudem unterstützten Flugzeuge vor
Einrichtung jener berühmten Flugverbotszone die in Ajdebiyah kämpfenden
Aufständischen, insofern sie nicht von deren Luftabwehr daran verjagt
wurden.

Offensichtlich war das gestrige Ereignis des Tages die Inkraftsetzung der
Flugverbotszone durch die UNO. Unlängst sagten noch alle, dass diese
Flugverbotszone taktisch nicht viel ändern wird (was wahr ist) und niemand
wagte in der Stimmung der allgemeinen Niederlage, an ihre Schaffung
wirklich zu glauben. Aber die Freude, die diese Ankündigung auslöste war
enorm, lange schon hatte man nicht mehr so viele in den
Vorbereitungskursen gesehen. Die Nachricht schlug nach dem Abendessen ein.
Augenblicklich fingen alle an, in die Luft zu schießen. Es war ein echtes
Feuerwerk der Leuchtkugeln. Alle Jungs, mit denen wir zusammen sind, waren
weg, um das Ereignis zu feiern, ein Rodeo auf Autos in den Straßen der
Stadt zu veranstalten und einige Magazine zu leeren. Ein Händler lud uns
alle zum Trinken ein. Es war ein Fest...

Die Libyer spüren neue Kraft; die Anhänger Gaddafis wissen sich bedroht.

Bengazi, 18. März

Einige ersehnte Präzisierungen aus Libyen
17.03.2011

Wir verstehen, dass es von Frankreich aus kompliziert sein muss, sich
vorzustellen, wie die Situation hier ist. Wahrscheinlich macht man sich
kein Bild von diesen unerfahrendenen Jugendlichen, die sich ohne Waffen in
den Sturmangriff einer pausenlos bombardierten Strasse werfen. Oder davon,
dass eine “politische” Diskussion mit einem gebildeten und neugierigen
Studenten im wohlüberlegten Erörtern der Realität einer “jüdischen
Freimaurerverschwörung” bestehen kann. Die libysche Revolution ist mit
Sicherheit nicht so, wie wir glaubten.

In einer Woche der Repression übt Gadafi und sein unerträgliches Regime
Vergeltung an einem Volk, das wenig an Revolten gewöhnt ist (Libyen ist
nicht Griechenland oder die Kabylei). In diesem Artikel versuchen wir,
einen Monat nach Beginn der Revolte, zu erörtern, was das befreite Libyen
ist. Versuchen, ein bisschen mehr von dem zu teilen, was wir dort gesehen
und erlebt haben. Auch, um ein anderes Licht auf die Berichte zu werfen,
die wir auf dieser Seite bisher veröffentlicht haben und weiter
veröffentlichen werden.

Versorgung

Was die Verpflegung, Wasser, Strom und Treibstoff betrifft, ist die
Situation nach wie vor stabil. Die Verpflegung wird im Allgemeinen wie vor
der Revolte beschafft, in Geschäften, die von Ägypten aus beliefert
werden. Die Löhne werden nicht mehr ausgezahlt, aber die von den Banken
nach und nach freigegebene persönliche Wirtschaft [?] reicht aus. Um einer
wachsenden Verarmung und einem Stillstand der Marktwirtschaft vorzubeugen,
haben die Golfstaaten, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate, sowie
die ägyptische Bevölkerung Lebensmittel und Hygieneartikel über die Grenze
geschickt, die grösstenteils in den Städten [der östlichen Provinz]
Kyrenaika lagern. Seit dem 17. Februar, vorher war der Bedarf an
Lebensmitteln nicht erkennbar, bildeten sich zahlreiche Initiativen, um
die Bedürftigen zu versorgen. Ich kenne sie nicht alle und weiss mitunter
nicht viel über ihre Funktionsweise und Effektivität. Nicht weniger
manifestierte sich die Solidarität in den Tagen, die auf den 17. Februar
folgten, im Wesentlichen in spontanen Lebensmittelspenden Einzelner. Sehr
schnell lösten die Männer, die zu den Waffen gegriffen hatten, um
Check-Points einzurichten, eine schwunghafte Grosszügigkeit aus. So
öffneten etwa Eigentümer von Supermärkten ihre Lager für die Verteidiger
der Stadt.

Am 26. Februar beginnt die Petrol Engineering Community, eine spontan von
Arbeitern der Petroliumindustrie gegründete Assoziation, bei
Führungskräften der Petroliumindustrie Spenden zu sammeln (2000-3000 $ am
Tag), um Lebensmittel und Kleidung für die Soldaten zu kaufen. Als die
Truppen Gaddafis am 2. März Brega angriffen, stiegen die Spenden erheblich
an. Seit diesem Tag und bis vor kurzem ging es dabei im Wesentlichen um
Wasserflaschen, Milch, Saft, Kuchen und Teigwaren. Eine bedeutender Teil
dieses (überschätzten) Zustroms wurde an den Check-Points an Durchreisende
verteilt. Flüchtlinge aus Zentralafrika, Westafrika und Ägypten
profitierten von dieser Hilfe (die derzeit für uns weitgehend unzureichend
ist).

Am 6. März gründeten zu Studenten gewordene frühere Pfadfinder “ Die
Jugend des Wandels”. Diese Organisation mit ihrer (den Pfadfindern
geschuldeten) etwas formellen Hierarchie umfasst um die 30
feste Mitarbeiter und über 370 für verschiedene Aufgaben mobilisierbare
Freiwillige, die sich zum Beispiel um Transport, Reinigung, Verstärkung
des Krankenhauspersonals oder die Veröffentlichung von Artikeln kümmern.
Auf Versorgungsebene übernehmen sie aus dem Golf kommende Hilfsgüter, dank
ihrer Kontakte und Beziehungen mit der gesamten kyrenaikischen
Küstenregion haben sie eine Reihe von Depots in Bengazi eingerichtet und
fahren die Lebensmittel in Konvois an die Frontlinie. Sie organisieren
Waffensammlungen und ermuntern die Leute, die Waffen aufbewahren, sie den
Kämpfern zu geben, auch wenn sie selbst nach wie vor nicht mitmachen.
Diese spontane Assoziation hält Verbindungen zu anderen, älteren
Vereinigungen der sozialen Hilfe und Solidarität, und gelegentlich zu den
neuen Instanzen in Bangazi.

Instanzen.

Es gibt im Grunde genommen drei offizielle Instanzen, die zur Zeit nicht
über ein Gebäude verfügen. Die bekannteste ist die provisorische
Regierung, der nationale Übergangsrat. Nur eine Minderheit ihrer
Mitglieder sind bekannt, denn etliche unter ihnen befinden sich
(inkognito) in der besetzten Zone. Seine Rolle ist es, diplomatische
Beziehungen und Kontakte zur Presse aufzubauen mit dem Zweck, den Mächten
des Abendlandes eine glaubwürdige Alternative zu Gaddafis System
anzubieten. Die zweite, wenig bekannte Instanz ist der lokale Rat, seine
Bedeutung scheint gering zu sein. Die dritte ist der Stadtrat (bisweilen
auch lokaler Rat genannt). Er besteht aus dreizehn Mitgliedern, alle von
ihnen sind öffentliche Personen aus Bengazi. Jedes Mitglied deckt einen
Sektor öffentlicher Bedürfnisse ab: Ökonomie, Banken, Erziehung...

Ich habe mich recht wenig mit dieser Institution beschäftift, aber
jenseits dessen, was die Armee in Bengazi betrifft, scheint er wenig aktiv
zu sein. Die Mitglieder des Stadtrates scheinen sich auf dem auszuruhen,
was bereits existiert: Die spontanen Assoziationen, jene Institutionen,
die funktionieren (Erdölunternehmen, Krankenhäuser usw). Der
Verantwortlichen für den Energiesektor, Ahmed Garoushi, kümmert sich nicht
um den Verkauf des in Tobrouk verfügbaren Rohöls (100.000 Barrel am Tag)
und die Rekuperation des Geldes aus diesem Verkauf, der in den kommenden
Wochen stattfinden müsste. Dieses Geld wäre dem Stadtrat und der
provisorischen Regierung zur Verfügung zu stellen.

Um besser zu verstehen, wie die Mechnismen der Konterrevolution sich
zusammensetzen, gilt es, das tiefgründigste Phänomen dieses revolutionären
Krieges zu beleuchten, die Formierung eines “vorn” und eines “hinten”. Und
dann zu versuchen, das zu verstehen, dem bis dahin niemand (inklusive uns)
Aufmerksamkeit zu schenken schien: Den Diskurs des libyschen Volkes.

Der Krieg konnte, in seinen ersten Tagen, absolut nicht in einen Gegensatz
gefasst werden, der in den Kämpfen zwischen einem “vorn” und einem
“hinten” unterscheidet. Zunächst gingen alle befreiten Städte aus langen
Schlachten hervor, schwierig und blutig, die alle betrafen (Demonstranten,
Freunde, Nachbarn, Krankenhauspersonal, Freiwillige aller Art). Brega
wurde von seinen Einwohnern eingenommen, und als die von Ras Lanouf
Applaus von den Leuten aus Bengazi bekamen, war es eine ganze Stadt, die
sich mobilisiert hatte, jeder Bewohner zog mit einer Waffe in den Krieg,
die er sich angeeignet hatte, oder mit der eines Freundes.

Die Formierung eines “vorn”...

Es ist der Tag nach der Feier dieser Erfolge und der übernächste der
Niederlage in Benjawad, der jene Truppe von Kämpfern hervorbrachte, die
während der Kämpfe um Benjawad, Ras Lanouf, Brega und Ajdabiyah zur “Armee
des Volkes” wurde. Diese Truppe, schlecht bewaffnet, nicht geschult, ist
durch eine Unfähigkeit zu jeglicher offensiven Aktion gekennzeichnet, die
300-600 Meter überschreitet, durch langes und schwieriges Lernen der
notwendigen Verstohlenheit, durch eine Zeitlichkeit des Handelns, die mehr
den Rhythmus einer Spritztour mit Kumpels hat als den eines Krieges. Als
ich sie verließ, hatte diese Truppe weder weitreichende Kanonen noch
Haubitzen, weder Mörser noch Katjuschas, weder Helme noch kugelsichere
Westen, und sehr wenig leichte Waffen.

Eine andere Komponente der Front, sie ist fast unsichtbar, lag darin, dass
sich die Armee rund um irgendwelche Offiziere neu zusammensetzte. Die
einzigen Truppenmit Kommandostruktur scheinen die Spezialkräfte zu sein.
Der Gebrauch von Katjuschas, die, wie dieser Krieg geführt wird,
unentbehrlich sind, scheint einen Status zu vermitteln. Ihr Abschuss wird
von den Spezialkräften geregelt, wie mir letztere versicherten, während
ich sah, dass die Munition in Selbstorganisation vom Volk transportiert
wird. Während der massiven Angriffe des bewaffneten Volkes (wie in
Benjawad oder in Sidrah) konnte die Nutzung dieser Waffen wahrhaft
entscheidend sein. Außerdem ist zwar wahrscheinlich, dass die
hierarchisierte Armee eine wichtige Rolle bei bestimmten Siegen gespielt
hat, doch wurde sich systematisch auf die Angriffe des Volkes verlassen
und in vielen Fällen hätte man sich weit weniger exponieren müssen.

… und eines “hinten”

Bei denen, die sich seither “hinter” der Front konstituieren, nimmt dies
organisierte Armee hingegen einen wichtigen Platz ein. Außer den
Spezialkräften, die sich permanent im Gebiet aufzuhalten scheinen,
organisieren die die Ausbildung neuer Kräfte in einer Kaserne, verfügen
mit Sicherheit über große Bestände an Waffen und sind in ständiger
Verbindung mit der Keimzelle des entstehenden Staates. Der Geist dieser
Säbelrassler ist das Geheimnis und das Misstrauen, bis hin zur
Lächerlichkeit. Es sind nicht die Leute an der Front, sondern jene
geschniegelten jungen Männer, die die Ausrüstung besitzen, die die
kugelsicheren Westen tragen. Es ist in ihrem Trainingslager, wo sich die
Funkgeraäte mit großer Reichweite finden, die leistungsstarken Ferngläser,
die modernsten großen Kaliber. Dort sei man, so heißt es, bereit über den
Feind hereinzubrechen, ein ganzes Bataillon (200-300 Männer) sei bereits
ausgerüstet und militärisch ausgebildet. Häufig verließen einige unter
ihnen das Lager, um sich unter den Granaten der Armee des Volkes
wiederzutreffen.

Es ist gewiss, dass die Offiziere von morgen, die Medaillenträger, die
Pensionäre, nicht diejenigen sein werden, die sich außerhalb jeder
Hierarchie organisieren. Für letztere existiert eine separate Realität,
verschieden und konfus. Sie beschäftigt vor allem, dass sie beim Anrücken
der feindlichen Truppen dort sterben könnten, die Beschaffung von Waffen,
das Schicksal der Verräter und der Feinde. Der Widerspruch ist groß
zwischen den zivilen Kämpfern an der Front und den anderen, denen hinten.
Anwesend in den Momenten der Freude, sind diese schnell aus einem Krieg
desertiert, der sie überrollt. In Bengazi lösen sie das Problem, indem sie
ohne Unterbrechung bekräftigen, dass Gaddafi am Ende ist sowie durch das
Absingen patriotischer Lieder.

Die Aneignung der Waffen durch das Volk geschah nach Art des
Privateigentums, nicht durch ihren einzelnen oder kollektiven Gebrauch. Es
gibt derzeit Tausende Kalaschnikows, Granatwerfer, und sogar 30 mm Waffen,
die unter den Kopfkissen und in den Garagen von Bengazi schlafen. “Hinten”
wusste jenseits der hierarchisierten Armee, auf die wir zu sprechen kamen,
niemand wirklich, wo die Front ist. Es scheint alle einen Scheiß zu
kümmern, sie versuchen nicht, es zu wissen. Sie fühlen sich diesem Krieg
nicht verpflichtet, den sie nicht erklärt haben. Der Diskurs dort, das
sind die hunderte Male von den Leuten auf der Straße wiederholten Sätze;
hunderte Male “Gaddafi der Affe”, “Gaddafi der Verrückte”; die
hundertfachen Gaddafi-Karrikaturen, die Karrikaturen ihres Diskurses. Das
Problem ist Gaddafi; Gaddafi, nicht seine Söhne; Gaddafi, nicht seine
Armee; Gaddafi, nicht seine Polizei. Gerade noch gesteht man sich zu, die
Fremden, die schwarzen Söldner auf dem Niveau von “Gaddafi der Afrikaner”
zu demütigen. Die nationale Eintracht kann hier in jedem Moment angerufen
werden. Das Volk und die Jugend haben sich die Indoktrination
wiederangeeignet.

Sicher, die Toten werden jeden Versuch der nationalen Aussöhnung
beeinträchtigen, doch werden sie auf religiöse Art begraben. Sie sind
keine Krieger, keine Besiegten, sie sind Märtyrer, man soll sie nicht
beweinen. Die Libyer sollen den Frieden und Gott respektieren, vor ihren
Feindschaften und vor ihrem Begehren. Die fünf Gebete des Tages sind da,
um dies in Erinnerung zu rufen, selbst an der Front. Das Religiöse ist ein
wichtiger Teil des Diskurses, die Demonstrationen skandieren, dass es
keinen Gott gibt außer Allah und Allah ist groß.

Es scheint, dass der zentrale Motor dieser Revolte einer Reaktion auf die
maßlose Hochmütigkeit von Gaddafi ist, der sich erlaubte, ein Volk
auslöschen zu wollen, das schlimmstenfalls Reformen verlangte und
bestenfalls Saif al Islam wieder an der Macht und die Länder befreit sehen
wollte. Alle Formen der Propaganda, der Logistik, des Kampfes, der
Organisation, die bisher von der Revolution erfunden wurden, sind direkte
Anleihen nach Modell des Systems von Gaddafi. Vielleicht lernt die
Revolution in den Gruppen der Kämpfer oder der jungen Freiwilligen, die
die Erfahrung von  Kameradschaft und kollektiver Organisierung machen -
was angesichts der omnipresenten Versuche der Formalisierung hier stets
prekär ist.

Q. und D., Bengazi, 17. März

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